Am späten Nachmittag, als die Sonne schon tief am Berg stand, suchte Robert seinen Bruder Arne auf. Er rief ihn mit lauter Stimme, dass es über den Burghof schallte: „Feldherr!“ Arne erhob die Hand, um Robert zu signalisieren, dass er seinen Ruf vernommen hatte. Er ließ den Beamten noch eine kurze Weile warten und näherte sich dann mit festem Schritt. „Robert, geliebter Bruder. In deinen Augen sehe ich, dass du meine List durchschaut hast. Ich bekenne, dass ich dich unter einem Vorwand an diesen Ort gelockt habe. Vergib mir, Bruder. Ich habe gute Gründe, dich von deinen Amtspflichten abzuhalten. Wenn die Sonne hinter den Bergen verschwunden ist, wirst du den Grund für mein Handeln erfahren. Ich kenne sonst keinen anderen, der das zu erkennen vermag, was ich erkannt habe. Erst recht kenne ich keinen anderen, der das Erkannte zu etwas Großartigen verwandeln könnte.“
So schön Arnes Ausreden und Entschuldigungen und Schmeicheleien klingen mögen. Meist verbarg sich hinter seinen Worten mehr. Sei es drum, dachte sich Robert. Am Abend kündigte ein Knecht den Burgvogt an. Eilig wurde der Burghof mit Fackeln beleuchtet. Die Feuerstellen wurden nachgefüllt. Eine Magd warf Kräuter in eine Schale, die auf einem kleinen Bett aus glühender Kohle stand. Der Burghof wurde von einem angenehmen Duft geflutet.
Eine großgewachsene Frau betrat den Hof. Sie trug eine weiße Maske vorm Gesicht und war in edle Tuche gehüllt. Sie bewegte sich langsam, aber zielstrebig zur Mitte des Hofes. Die Leute bildeten einen Kreis um sie und sanken auf die Knie. Nur die Wachen, der Knecht, Arne und Robert schickten sich an, stehen zu bleiben.
„Wer ist sie? Und wann lässt sich der Burgherr sehen, der angekündigt wurde?“ Fragte Robert leise seinen Bruder Arne. „Das ist die Fürstin. Sie ist hier Burgvogt und die Herrscherin von Amontor.“ Antwortete Arne.
„Der Gast möge seine Waffen ablegen und sich dem Fürsten langsam nähern.“ Rief der Knecht. „Robert vom Adlerrück, Beamter Anorans, Bruder des Feldherrn.“ Stellte der Knecht Robert lautstark der Menge vor. „Fürst Dragon die Zweite von Aresburg, Herrscherin von Amontor, die von den Göttern Begnadete, empfängt Euch zur Audienz. Kniet nieder, als Zeichen, dass Ihr Euch den Regeln dieses Hauses zu beugen gedenkt.“
Robert kniete als Beamter nicht vor der Adelswürde. Er war nicht nur Diener, sondern vertrat Anoran als Person. Ebenso wie es der Adel hielt. Dennoch zögerte er keinen Augenblick. Er kniete nieder und erhob sich wieder in einer flüssigen Bewegung. Seinem Amt ist würdig gedacht worden und den Regeln des Hauses, in dem er logierte und verköstigt wurde, beugte er sich schon aus diplomatischer Feinfühligkeit. Auch wenn die Versorgung hier mehr schlecht als recht sein mochte.
Die Fürstin sprach kein Wort. Sie wies mit einer Handbewegung Robert an, sich neben sie zu stellen. Ein Abendmahl gab es nicht. Der Knecht verkündete noch eine mager ausgeschmückte Dankesrede für das Tagwerk der hart arbeitenden Leute im Namen der Fürstin, dann begaben sich die Fürstin, Robert und der Knecht in den Burgfried.
Der Rittersaal war von Öllampen erleuchtet. Es roch modrig und ein kalter Wind zog über den Boden. Über der Pforte befand sich das Bild einer weißen Rose. Die Rose des Schweigens symbolisierte, dass kein Wort, welches hier gesprochen wurde, den Saal verlassen durfte. Die Seitenwände waren mit Narrenkappen bebildert, welche zur freien Rede auffordern sollten und zum Burgfrieden mahnten. Sonst war der Saal schmucklos. Am hinteren Ende des Saales stand der Thron der Fürstin. Es war ein Holzbänkchen mit einem Schafsfell darauf. An der Seite stand ein Tisch mit zwei Holzschemeln. Eilig holte der Knecht einen der Schemel und stellte ihn vor den Thron, damit Robert darauf platznehmen konnte.
Die Fürstin nahm Platz. Robert nahm Platz. Dann ertönte eine Frauenstimme durch die weiße Maske. Die Fürstin sprach: „Wir heißen Euch hier willkommen und danken den Göttern, dass Ihr es einrichten konntet. Eure Dienste sind hier dringender von Nöten als irgendwo sonst. Wir können Euch in dieser Stunde nicht viel bieten, dennoch soll Euer Dienst reich gesegnet werden. Richtet Eure Amtsstube in Aresburg ein und wir statten Euch mit weitreichenden Befugnissen aus.“ Es folgte ein langes Schweigen. Nur der kalte Wind säuselte durch das Gemäuer. Robert setzte sich gerade auf und fragte: „Welche Nöte leidet Ihr, dass es meiner Dienste bedarf? Wie groß ist die Not, dass Ihr verlangt, dass ich all meine Amtsgeschäfte vernachlässigen sollte, um hier meinen Dienst zu tun?“ Dragon, die Zweite räumte sich eine weitere Pause ein, bevor sie antwortete: „Wir danken Euch für Eure Geduld und Eure Anwesenheit hier in Aresburg. Wir bitten Euch, die Einzelheiten mit unserem Knecht zu besprechen. Danach schenken wir Euch so viel Bedenkzeit, wie Ihr für notwendig erachtet. Wir versichern Euch, dass Ihr die Burg jederzeit als Freund verlassen dürft.“
Da Roberts eigener Bruder offenbar unter der Fürstin Sold diente und dieser außerdem die einzige bedeutsame militärische Kraft an diesem Ort darstellte, sah Robert ohnehin keinen Grund, sich fürchten zu müssen. Er stand auf. Dankte für die Audienz. Bat um Entschuldigung, dass er unter Berücksichtigung der List seines Bruders kein Gastgeschenk übergeben konnte, stand provokant als Erster auf und packten den Schemel, auf dem er saß, um sich zum Knecht zu begeben. Der Knecht, der alles mit angehört hatte, wies Robert den Platz am Tisch zu. Die Fürstin verließ den Saal lautlos und in einer flüssigen Bewegung, als würde sie schweben.