Gleich nach der einzigen Mahlzeit des Tages eilte Arne zum Burgfried und diskutierte kurz, aber heftig mit dem Knecht. Dann schritt der gepanzerte Krieger zu seinem Bruder dem Beamten und teilte ihm mit: „Robert. Du kannst Fürst Dragon sofort im Geheimen sprechen. Die Etikette bleibt dir somit erspart. Begib dich zum Burgfried in den Rittersaal. Dort wirst du in Empfang genommen.“
Robert dankte, legte seine Waffen ab und schritt zum Burgfried. Im Rittersaal saß die Fürstin auf ihrem Thron. Als der Knecht herbeieilte und etwas sagen wollte, mahnte ihm Robert: „Wage es nicht, den Mund zu öffnen, Knecht! Hierbei bist du nicht geladen. Hinfort mit dir und trage Sorge, dass wir nicht gestört werden.“ Der Knecht sah zur Fürstin, die das Gesagte mit einem Kopfnicken untermauerte. Als der Knecht sich verbeugt und den Saal verlassen hatte, sagte Robert: „Fürst Dragon. Hier stehe ich. Aufrecht und Euch ebenbürtig. Gewährt mir freie Rede!“
Die Fürstin stand auf, schob die Brust vor und hob den Kopf. Sie strahlte dabei eine bedrohliche Kampfbereitschaft aus und drohte: „Seht Euch vor Beamter! Ihr geht auf Messers Schneide. Ihr verweigert die Etikette? Ihr beugt Euch nicht in diesem Haus? Wollt Ihr die Herrschaft von Fürst Dragon, dem Zweiten beleidigen?“
Robert trat nahe an die Fürstin heran und sprach: „Besser ich zeige Euch Eure Schwächen, als dass Eure Feinde diese zu Eurem Nachteil ausnutzen. Eure Herrschaft steht auf wackligen Beinen und ist teuer erkauft. Eure adelige Abstammung ist zweifelhaft. Der anoranische Adel erkennt Euch nicht an. Amontor ist in denkbar schlechter Verfassung. Aresburg wird nur durch einen Funken Hoffnung erhalten. Wie wollt Ihr das beheben? Was wollt Ihr von mir verlangen?“
Die Fürstin schwieg. Dann entfernte sie die Maske. Ein schönes, blasses Frauengesicht kam zum Vorschein. Blutrote Streifen zogen sich von den Augen bis zum Hals. Zorn verzerrte die fürstliche Mine. Die Stimme der Fürstin bebte.
„Fürchtet Ihr Euch nicht? Mit einem Streich können wir einen menschlichen Leib zerfetzen und blutentleeren. Mit welchem Recht stellt Ihr die Regeln und die Macht der Fürstin infrage?“
Robert blieb standhaft und von der Drohung unbeeindruckt.
„Ihr seid von feiner Schule ausgebildet. Das weiß ich wohl einzuschätzen. Euer Wissen über die Macht sichert Euern Status hier in Aresburg. Doch von der großen Politik versteht Ihr wenig. Lasst mich meine Frage an Euch selbst beantworten. Ihr habt nach mir schicken lassen, um die Gunst des hohen Adels zu gewinnen. Ich kann sehr schnell tun, was in meiner Macht steht. Doch wird es nicht den gewünschten Erfolg bringen. Wollt Ihr die Fürsten Anorans beeindrucken, dann müsst Ihr ganz Amontor beherrschen. Ihr könnt mich auf der Stelle töten. Doch Ihr müsst mehr vollbringen, als im Blutrausch zu morden, wenn Ihr wahrhaft herrschen wollt.
Wenn ich morgen abreise, dann seid Ihr dem Untergang geweiht. Ihr seht, ich kann mir meine Frechheit sehr wohl leisten und auch ich verfüge über das geheime Wissen der Macht. Ihr werdet mit mir zusammenarbeiten müssen, wenn ich mich Eurer Etikette unterwerfen soll. Mein Amt wiegt in den anoranischen Kernlanden mehr als Eure Herrschaft. Es ist jedoch mein Los zu dienen. Seid Ihr meiner Dienste würdig?“
Die Fürstin genoss tatsächlich von Kindheit an eine herrschaftliche Ausbildung und war innerlich erfreut, einen Gleichgesinnten getroffen zu haben. Die Last der einsamen Herrschaft hat die Fürstin fast gebrochen. Zu gut wusste sie, dass Robert recht hatte. Da Robert das Geschäft der Macht ebenso verstand, wusste die Fürstin, dass sie nicht um ihr Gesicht fürchten musste. Ein kleines Lächeln fuhr über das unmaskierte Gesicht.
„Ihr versteht Euer Handwerk, Beamter. Wie können wir um Eure Dienste werben? Was muss eingerichtet werden, um Euch in Aresburg zu halten?“
Robert war verblüfft, wie schnell die Fürstin über seine Provokationen hinwegzusehen schien.
„Fürst Dragon. Nur wer von wahrer Größe ist, kann trotz Beleidigungen und Missachtung der Etikette emotionslos bleiben. Ich bewundere die Leidenschaft, die Ihr trotz kühler Berechnung gegenüber dem Wohle dieser Leute da draußen zeigt. Ihr kennt offenbar Eure eigene Situation. Helft mir zu verstehen, wie Amontor aufgestellt ist. Weist mir einen Schriftkundigen, der Amontor bereist hat und sich gut zurechtfindet. Mehr begehre ich nicht von Euch.“
Die Fürstin erhob sich, senkte den Kopf und streckte die Hand zur Eingangspforte des Saales.
„Unser Knecht soll Euer Diener sein. Er wird alle Mittel besorgen, die Ihr benötigt, um Euer Werk tun zu können. Geht nun und tretet uns erst wieder vors Angesicht, wenn Ihr über Euer Bleiben entschieden habt.“
Die Fürstin verbarg ihr Gesicht wieder hinter der weißen Maske und setze sich. Robert verbeugte sich tief und verließ den Saal. Er suchte ohne Zögern den Knecht auf. Die beiden setzten sich an eine der Feuerstellen im Hof. Es war bitterkalt und schon wieder begann es zu schneien. Der Knecht musste sich einer ausgiebigen Befragung hingeben und Rede und Antwort stehen.
Wo waren die Raubritter heimisch? Welche Gebiete beanspruchten die Klans? Welche Räuber sind bekannt? Krieg und Frieden, Fehden und Bündnisse musste der Knecht in allen Details beschreiben. Welche Rohstoffe gab es in Amontor? Wo waren die zu finden? Robert, schreib eifrig alles auf. Am nächsten Morgen begann das Fragespiel, wo es am späten Abend geendet hatte. Die Neugier des Beamten war nicht zu bändigen. So wurde die Befragung nur von der einen täglichen Mahlzeit unterbrochen und war auch an diesem Abend nicht beendet worden. Noch einen dritten Tag ließ der Knecht Fragen über sich ergehen und beantwortete alles ohne Murren.
An diesem Abend musste Robert seine Entscheidung kundtun. Wollte er in Amontor bleiben? Robert zog sich kurz vor Sonnenuntergang in sein Schlafgemach zurück und kam erst wieder hervor, als die Hälfte der Burgbewohner bereits fest schliefen. Er hatte drei Briefe bei sich. Zwei waren versiegelt, einer offen. Er rief Arne zu sich und lies drei Boten zu Pferde benennen. Der erste Bote wurde noch in der Nacht mit einer Botschaft an Roberts Dienstherrn, einem Adligen aus den Kernlanden, losgeschickt. Der zweite verließ mit dem ersten das Burgtor mit einem Brief an den Kurfürsten Eugen von Howell, der die Besatzung Amontors vollstreckte. Der dritte Bote musste sich gedulden. Robert verschwand für wenige Augenblicke im Rittersaal bei Fürst Dragon und brachte den dritten Brief versiegelt zum dritten Boten der sich zum König vor Anoran, Hagen von Nuiar aufmachen musste. Dann ließ Robert die Essensglocke läuten, dass alle in der Burg wach wurden und sich im Burghof sammelten. Selbst die weiße Maske der Fürstin konnte man an der Pforte zum Burgfried schimmern sehen.
Robert sprach: „Liebe Leute von Aresburg. Ich, Robert vom Adlerrück, Beamter Anorans, schließe mich dem edlen Ansinnen Eurer Fürstin an. Meine ersten Amtshandlungen sind bereits geschehen. Hier stehe ich und verkünde meinen neuen Amtssitz Aresburg und lasse die Kunde von den Herolden in die Kernlande tragen. Den Herrn über die Okkupationstruppen, Kurfürst Eugen von Howell habe ich aufgefordert, seine verheerende Besatzung abzubrechen und seine Krieger abziehen zu lassen. Unsere Fürstin hat dem König von Anoran die Treue geschworen und erwartet nun die Anerkennung und Erweiterung ihrer Adelsehre durch den höchsten Würdenträger Anorans. Lang lebe Fürst Dragon, die Zweite von Aresburg, einzig legitime Herrscherin über Amontor.“
Fortsetzung am 24.02.2023 mit „Viel zu tun“